Eine neue Ära - Abschied und Aufbruch in Anthrazit
- Kerstin Tscherpel
- 11. Okt.
- 3 Min. Lesezeit
Das Wort Ära bezeichnet laut Wikipedia ein Zeitalter oder einen Zeitabschnitt, der oft durch prägnante Ereignisse eingeläutet wird. Genau das passiert gerade in unserem Leben.
Nicht nur, dass wir unser Haus verkauft haben, in dem unsere Kinder groß geworden sind – auch innerhalb unserer Familie beginnt nun ein neuer Lebensabschnitt.
Mit unserem großen Sohn zieht nun auch das zweite Kind aus. Unsere Familie ist in Indien innerhalb von zwei Jahren von fünf auf drei Mitglieder geschrumpft. Jetzt sind wir eine Kleinfamilie, und unser Nesthäkchen quasi ein Einzelkind.
Der Auszug meines Sohnes nimmt mich stärker mit als der meiner Tochter vor zwei Jahren. Vielleicht liegt es daran, dass er oft so lost wirkt, dass ich mir kaum vorstellen kann, wie er allein zurechtkommen soll.
Als unsere Tochter ausgezogen ist, konnte sie mit ihrem Freund in unser Haus in Deutschland ziehen – ins gemachte Nest. Für unseren Sohn war das durch den Hausverkauf nicht mehr möglich. Als er sagte, wir würden ihm sein Zuhause nehmen, trifft mich das mitten ins Mutterherz.
So entstand der Plan, dass er ins Dachgeschoss meiner Eltern zieht. Doch der Dachboden war über die Jahre zur Rumpelkammer geworden. So stapeln sich im Dachgeschoss Kisten voller Decken, Kissen, Bezüge, Geschirr, Bücher, Radios und Kassettenrekorder. Meine Mutter bekommt Schnappatmung, als ich einen Müllsack nach dem anderen fülle.

Nach mehreren Fahrten zu den Entsorgungszentren ist das Dachgeschoss endlich leer. Wieder wird mir bewusst, wieviel Zeit und Energie allein die Müllentsorgung in Deutschland verschlingt. Man muss den Abfall in mindestens zehn Kategorien trennen: Restmüll, Papier, Pappe, Plastik, Holz, Metall, Glas (nach Farben sortiert), Porzellan, Elektrogeräte (mit und ohne Kabel), Batterien – und Textilien nicht zu vergessen. Dann alles ins Auto laden und das kleine Zeitfenster abpassen, in dem ein Entsorgungszentrum geöffnet ist. Hier in Indien werfen wir einfach alles in eine Tonne. Jeden Morgen kommt der Müllmann mit seiner Fahrradrikscha. Wenn nach einer Party einmal besonders viel anfällt, teilt uns unser Fahrer mit, dass er nicht glücklich war. Dann zahlt man etwas extra – und die Sache ist erledigt. Das ist so viel entlastender fürs Gehirn.
Dann die Renovierung. ChatGPT versichert uns, dass auch handwerklich Ungeübte ein Dachgeschoss in zwei Tagen schaffen. Also starten wir voller Elan, kaufen Farbe und Clickparkett. Der alte Teppich wird von meinem Sohn mit purer Muskelkraft rausgerissen, die Tapete mühsam abgeknibbelt. Es ist heiß unter dem Dach, Klimaanlagen gibt es leider nicht, nur zwei kleine Ventilatoren bringen etwas Kühlung.
Mein Sohn hat sich eine dunkle Wandfarbe mit dem klangvollen Namen „Stille des Vulkans“ ausgesucht. Für mich schlicht Anthrazit – aber mit fancy Bezeichnung lässt es sich wahrscheinlich doppelt so teuer verkaufen. Der Boden: hellgraues Clickparkett in Steinoptik. Der Berater im Baumarkt versichert uns, das sei kinderleicht. Doch leider klickt bei uns gar nichts. Am Ende muss mein Mann mit dem Hammer nachhelfen. Ich frage mich, warum es Clickparkett heißt und nicht Hammerparkett. Am Ende brauchen wir doppelt so lang wie angedacht. Soviel zur Einschätzung der KI.

Nun lebt mein Sohn im renovierten Dachgeschoss meiner Eltern und lässt sich von meiner Mutter verwöhnen. Sie kocht für ihn und wäscht seine Wäsche – ob das seiner Selbstständigkeit zuträglich ist, bezweifle ich. Trotzdem beruhigt es mich. Ich weiß, dass er bei meiner fürsorglichen Mama gut aufgehoben ist, auch wenn ich 6000 Kilometer entfernt in Delhi bin.
Der Auszug unserer beiden Großen stimmt mich zwar wehmütig, aber Leben bedeutet Veränderung. Das sagt schon Heraklit mit den Worten: “Nichts ist so beständig wie der Wandel.”
Doch in all dem Wandel bleibt das Wesentliche beständig: mein Mann an meiner Seite,
unsere Kinder, die inzwischen eigene Wege gehen und aus der Ferne unseren Rat suchen,
und die Gewissheit, dass jede neue Phase auch ein Versprechen in sich trägt – das Versprechen, auf etwas Neues.
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